Die Selbstversuche

Ein Jahr lang begibt sich Sebastian auf eine Reise. 12 Rollen in 12 Monaten. Unter anderem lebt er anonym, frutarisch, nackt, pilgernd und autark. Die Experimente stehen für das Neue, für den Schritt heraus aus der Komfortzone. In den 12 Selbstversuchen fand Sebastian überraschende Antworten, die sein Weltbild ordentlich aufrüttelten. Aus kleinen Veränderungen wurden Lawinen. Aus Vorurteilen wurde Neugier. Aus Angst wurde Mut.

Der Anonyme

In bester Jason Bourne-Manier habe ich versucht, keinerlei Datenspuren zu hinterlassen, und dabei festgestellt, dass Privatsphäre in der Praxis schon lange kein Grundrecht mehr ist. Dieser Monat ohne konstante Verbundenheit bescherte mir viele erfreuliche Momente und Begegnungen in der Offline-Welt. Jedoch hatte ich in diesem Januar auch mehr als einmal Angst davor, den Rest des Jahres in einem thailändischen Gefängnis zu verbringen.

Der Frutarier

Sich einen Monat lang nur von rohen Früchten und Nüssen zu ernähren, hielt ich vor meinem Selbstversuch für verrückt. Das lag an meiner Ernährungsweise, die ich mir mit Hilfe der Werbeindustrie seit Kindesalter antrainiert hatte. In Südostasien habe ich im Februar 2018 gelernt, zwischen körperlichen Bedürfnissen und kopfgesteuerten Gelüsten unterscheiden zu können. Nach der Rückkehr ins kalte Deutschland erwartete mich eine harte Probe bei der Fortführung des Experiments.

Der Philanthrop

Jeden Tag eine gute Tat lautete das Motto im März. Die Nächstenliebe und Sinnhaftigkeit der Menschen, die ich in diesem Monat in sozialen Einrichtungen in Berlin getroffen habe, haben mich angesteckt. Kaum etwas ist so erfüllend, wie in lachende Kinderaugen zu sehen, Obdachlosen das Gefühl von Würde zu geben oder mit einer Flüchtlingsdame Deutsch zu lernen. Doch wo kann ich wirklich helfen? Und wie wichtig ist die Absicht dahinter?

Der Muskelmann

Bis Ende April wollte ich einen Sixpack haben. Dazu ließ ich mich in einem Kölner Fitnessstudio eines Duos aus Personal Trainer und Ernährungsberater in die Mangel nehmen. Kurzfristig brachte der Blick in den Spiegel Glücksgefühle, aber war er den Preis aus Verzicht und Quälerei wert? Nachdem sich die Bauchmuskeln hinter der Fettschicht zeigten, blieb am Ende die Gewissheit, wie sehr ich vermeintliche Grenzen mit Disziplin und Willenskraft verschieben kann.

Der Selbstversorger

Die erste Maihälfte verbrachte ich in einem autarken Bergdorf auf Korsika. Eingestellt war ich auf Verzicht, überrascht haben mich der Reichtum an natürlichem Essen und der Luxus in der Einfachheit. Eingeschränkt durch Tageslicht und Wetter passte sich das Tempo an die Umwelt an, was mich extrem entschleunigte. Das Zusammenleben auf engem Raum sowie die Abgeschiedenheit haben meine Prioritäten ordentlich zurechtgerückt und unter anderem dafür gesorgt, dass die zweite Monatshälfte eine unerwartete Wendung nahm.

Der Naturist

Einen Monat verbrachte ich in einem FKK-Camp an der französischen Atlantikküste. An das Nacktsein hatte ich mich schnell gewöhnt, an das Campen weniger. Überrascht hat mich, wie ehrlich der Umgang miteinander war, sobald die äußeren Hüllen gefallen waren. Als Neuling wurde ich nicht nur herzlich begrüßt, sondern bekam auch gleich einen Spitznamen der besonderen Art. Das half zumindest ein wenig, um mit plötzlich aufkommendem Heimweh besser klarzukommen.

Der Müllsammler

50 Kilogramm Haushaltsmüll produziert der Durchschnittsdeutsche jeden Monat. Das hätte mir einen Hexenschuss beschert, denn den kompletten Juli über trug ich alle von mir selbst verursachten Abfälle auf dem Rücken. Dabei konnte ich feststellen, dass sich ein Großteil meines Mülls mit nur wenig Aufwand vermeiden ließ, sofern ich Bequemlichkeit und Unwissenheit reduzierte. Spätestens hier habe ich auch begriffen, dass gesunde Gewohnheiten anstecken.

Der Einsiedler

Bewaffnet mit Essensvorräten, Zeichenstiften, Ukulele und Lesestoff bin ich in eine schwedische Blockhütte gezogen. In der sozialen Isolation wurde mir der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit bewusst. Der Verstand hatte Pause, dafür wurde das Unterbewusstsein umso aktiver. Die Stille und Langeweile in der Zurückgezogenheit ließen mich verstehen, was mein Innerstes zu sagen hatte. Einiges war erfreulich, anderes wollte ich lange Zeit nicht hören.

Der Schlaflose

Polyphasischer Schlaf bedeutet, die gewöhnliche Nachtruhe über den gesamten Tag aufzuteilen. Als Uberman machte ich nur alle vier Stunden ein 20-minütiges Nickerchen. Nach einer harten ersten Woche hatte ich mich tatsächlich an den neuen Schlafrhythmus gewöhnt, konnte die längere Wachzeit aber nur begrenzt genießen. Dennoch war es eine Offenbarung, zu sehen, zu welchen Leistungen der Körper in der Lage ist, sobald man seine Vorstellungskraft dementsprechend öffnet.

Der Pilger

Spätestens seit Hape Kerkeling suchen auch Atheisten auf dem Pilgerpfad nach Erleuchtung und Antworten auf Lebenskrisen. 600 Kilometer lang führte mich der Franziskusweg durch die hohen Berge Umbriens von Florenz nach Rom. Dabei hatte ich in guter Pilger-Manier den Weg zum Ziel gemacht und darauf vertraut, dass er mir das geben würde, was ich brauchte. Wie so oft waren es die unerwarteten Begegnungen, die meinen Horizont erweitern konnten und mich dadurch Demut gelehrt haben.

Der Sinnsucher

Nachdem ich in den Vormonaten bereits in meinem Inneren danach gesucht habe, wollte ich nun wissen, worin andere Menschen den Sinn des Lebens finden. Dazu befragte ich von Hartz-4-Empfängern bis hin zu Wissenschaftlern, Geistlichen und Philosophen alle Teile der Gesellschaft. In Gesprächen mit Imamen, Pfarrern, Rabbis und Sinnforschern stellte ich fest, dass sich zwar die Wortwahl unterscheidet, in den Antworten jedoch viele Gemeinsamkeiten stecken.

Der Selbstoptimierer

Anhänger der Quantified Self-Bewegung messen von Produktivität bis hin zu Ernährung alle eigenen Aktivitäten und versuchen, Korrelationen herzustellen. Kann aber Glück rationalisiert werden? Mein Jahr beendete ich mit einer Reise durch Brasilien in komplettem Gegensatz zu seinem Auftakt. Nachdem ich in diesem letzten Monat meiner Selbstversuche die Extreme Anonymität und Self-Tracking kennengelernt hatte, verblieb die Suche nach einem gesunden Maß zwischen Messen und Fühlen.