Der Selbstoptimierer: Mit Self-Tracking zur Selbsterkenntnis

„Was nicht getrackt wird, passiert nicht”, lautete mein Motto im letzten von zwölf Selbstversuchen. Einen Monat lang zeichnete ich alle Aktivitäten, Mahlzeiten, Vitalwerte, Schlafqualität und mehr auf. War es am Ende Selbsterkenntnis durch Zahlen oder der völlige Verlust von spontanen und intuitiven Handlungen?

Hintergrund zum Selbstversuch: Der Selbstoptimierer

Meine Leser hatten abgestimmt. Im Dezember 2018 sollte ich als Selbstoptimierer meinen Alltag vermessen und daraus meine Schlüsse ziehen. Im englischen Sprachgebrauch gibt es den Begriff des „Quantified Self”, also das Herunterbrechen und Ausdrücken der eigenen Person in Zahlen. Mit Hilfe verschiedener Technologien werden alle personenbezogenen Aktivitäten und Körperwerte sowie umweltbezogene Daten zentral erfasst.

Mit Hilfe von Smartphone Apps, Schlafsensoren, Schrittzähler und anderen „Smart Wearables” wollte ich 30 Tage lang alles aufzeichnen, was ich tue. Die gemessenen Daten wollte ich dann visualisieren und herausfinden, ob und welche Zusammenhänge es zwischen Input (Ernährung, Sport, Schlaf usw.) und Output (Leistungsfähigkeit, Gemütszustand, Produktivität usw.) gibt.

Ziele und Regeln für den Selbstversuch:

  • Aufzeichnen sämtlicher personen- und umweltbezogenen Aktivitäten (Schlaf, Sport, Arbeit, Wetter, Ernährung, GPS-Daten, …)
  • Gemütszustände, Leistungsfähigkeit und Produktivität messbar machen und täglich in einem Journal festhalten
  • Gesundheitscheck am Anfang und Ende des Monats machen und täglich Körperdaten erfassen (Gewicht, Puls, Blutzucker)
  • alle Daten zentral erfassen und Korrelationen zwischen Input und Output herstellen
  • Teilnahme an Meetups und Diskussionen der Quantified-Self-Bewegung

 

In jedem der 11 vorangegangen Selbstversuche in 2018 hatte ich Daten in verschiedenen Bereichen aufgezeichnet – den Schlaf als Uberman, die Ernährung als Frutarier, den Körperfettanteil beim Muskelmann, gelaufene Kilometer als Pilger oder den Gemütszustand beim Alleinsein in der schwedischen Blockhütte. Durch die Protokollierung der einzelnen Monate wollte ich nicht nur Rechenschaft über meine Experimente ablegen, sondern mich selbst auch besser verstehen.

Der Selbstoptimierer im Dezember rundet gewissermaßen das Jahr ab und ist gleichzeitig das absolute Gegenteil vom ersten Lifestyle-Experiment im Januar, in dem ich als „Der Anonyme” keinerlei Datenspuren hinterließ.

Es fiel mir schwer, meine Vorbehalte gegenüber diesem letzten Selbstversuch abzulegen. Zu sehr machte ich mir Gedanken um meine Privatsphäre und darum, was die Abhängigkeit von Algorithmen mit meinem Selbstempfinden macht. Dennoch versuchte ich, mich mit großer Offenheit auf das Neue einzulassen.

Kritik an der Selbstoptimierung gab es, wie auch bei anderen Experimenten, an vielen Stellen. Es sei Blödsinn, unser Selbstverständnis zu rationalisieren. Durch die Abhängigkeit von der Technik gehe doch jegliche Spontanität verloren. Das Leben könne eben nicht in Zahlen ausgedrückt werden.

Die Einwände konnte ich gut nachvollziehen. Neue Technologien machen Angst. Es ist befremdlich, dass uns ein paar Zeilen Code besser verstehen sollen, als wir dies selbst tun.

Aber, Diabetiker messen ihren Glukose-Spiegel, frischgebackene Eltern wiegen ihr Baby regelmäßig und Arbeitnehmer stempeln ihre Anwesenheitszeiten auf der Arbeit. Facebook kann anhand von ein paar Like-Angaben die sexuelle Orientierung eines Nutzers zuverlässig vorhersagen. Walmart weiß, wann Kunden schwanger sind, bevor diese es selbst wissen. Bei Herzschrittmachern und modernen Prothesen verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine.

Es wäre überheblich zu sagen, dass wir uns selbst so gut kennen und verstehen, dass uns Daten nicht helfen können. Genauso falsch wäre es, sich einzig auf Messwerte zu verlassen, ohne das körpereigene Empfinden zu berücksichtigen.

Ibuprofen und Malariaimpfstoffe waren das Ergebnis von Studien am eigenen Körper. Die Selbstexperimente mit Daten zwingen uns, die Grenze zwischen nachgewiesenem Wissen und persönlichen Überzeugungen zu prüfen.

Wann werden Migräneanfälle ausgelöst? Warum spiegelt mein Kontostand nicht meinen Finanzplan wieder? Warum sind meine Stromrechnungen so hoch? All diese Fragen können mit einem kontinuierlichen Tracken von Daten beantwortet werden.

Wie auch bei vorhergehenden Experimenten haben sich meine Annahmen im Laufe des Monats widerlegt. Es geht beim Self-Tracking nicht um die Selbstoptimierung, sondern die Erkenntnis über das eigene Selbst.

Bereits von Goethe hat man Aufzeichnungen gefunden, die zeigen, dass die Idee der Selbstkontrolle durch Erfassen der eigenen Daten nicht neu ist. Er notierte über 35 Jahre den Fortschritt seiner Werke, seine täglichen Spazierwege und mit wem er sich wann getroffen hat.

 

 

Die Quantified-Self-Bewegung

Schon vor der Gründung der Quantified-Self-Bewegung (QS) durch die Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly in 2007 war das Messen und Dokumentieren von Vitalwerten für Kranke und Sportler bekannt. Durch bessere Verfügbarkeit von Messinstrumenten wurde QS für die Allgemeinheit zugänglich. Mittlerweile gibt es Gruppen und Konferenzen auf der ganzen Welt. Das Motto lautet: „Knowledge by Numbers – Selbsterkenntnis durch Zahlen“.

Zu Beginn nutzten die Anhänger Notizbücher und Excel-Tabellen, um ihre Daten zu dokumentieren. Mittlerweile gibt es zahlreiche Gadgets und Apps, die dies automatisch tun. Ein Armband erfasst Puls, Bewegung oder Schlafqualität und sendet die Informationen an eine App, die diese mit Werten von der digitalen Waage, dem Blutdruckmessgerät und anderen Geräten aufbereitet.

In Deutschland wurde die erste QS-Gruppe 2011 in München gegründet. Hauptantreiber ist Florian Schumacher, der „Show & Tell”-Treffen in deutschen Städten organisiert. Auf dem Blog igrowdigital finden sich Testberichte von neuen Apps und Technologien sowie sämtliche Selbstversuche des Betreibers.

Anhängern der QS-Bewegung geht es viel weniger um die Selbstoptimierung, als darum, Befunde ihres Doktors zu hinterfragen oder ihre Neugier zu befriedigen. Gemütszustände oder Produktivitätswerte werden aufgezeichnet, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Fitnesswerte helfen dabei, die eigenen Stärken und Schwächen aus einer objektiven Datenperspektive aufzudecken.

Das Self-Tracking wird von Anwendern als Spiegel gesehen. Viele nutzen es, um Beschwerden oder Krankheiten besser zu verstehen und zu verbessern. Bei anderen ist es die Faszination, den eigenen Körper in Zahlen auszudrücken. Auch um neue Gewohnheiten zu etablieren oder das Bewusstsein zu steigern, können die Daten helfen.

Dabei sind nicht nur gesundheitliche und körperliche Werte wichtig. Gerade in den letzten Jahren werden verstärkt Routinen und die Nutzung digitaler Medien bewertet. Apple informiert seit kurzem seine Nutzer über die wöchentliche Nutzungsdauer des Smartphones und springt auf den Trend der Selbstoptimierungswelle auf.

Die Selbstoptimierer sind somit auch für viele Unternehmen eine spannende Zielgruppe. Nicht nur Apps und Geräte zur Selbstvermessung, sondern vermehrt Smart Wearables sind in den Alltag integriert. Sensoren, die direkt am Körper getragen werden oder in die Kleidung eingearbeitet sind, vereinfachen das tägliche Tracking.

Meditation mit dem Muse-Headband

 

Quantified Sebastian

Die QS-Bewegung geht davon aus, dass Daten zu Wissen führen und dieses Wissen Veränderungen anstößt. Diese Daten zu sammeln mag nervig sein, ist aber nicht sonderlich schwer. Sie sinnvoll zu interpretieren ist schon eine größere Herausforderung. Was mache ich mit all den Werten, die ich tracke?

Die gemessenen Daten stehen immer in Relation. Wie viele Schritte am Tag sind gesund? Wie viel Gramm Fett zu viel? Welcher Blutdruck ist für mein Alter normal?

Beantworten kann ich diese Fragen immer nur für mich. Anstatt mich nach einer gewichteten Norm zu richten, finde ich heraus, was normal für mich ist. Genau so habe ich die QS-Bewegung verstanden: Es geht um den Vergleich meiner Daten im Zeitverlauf.

Einen Monat lang sammelte ich aktiv und passiv Daten. Sowohl quantitativ, also in Zahlen ausgedrückt (Self-Tracking), als auch qualitativ, mit dem Schreiben eines Journals und in Bildern (Life-Logging).

Dafür nutzte ich eine Reihe von Geräten wie eine Smart Watch, eine digitale Waage, ein Blutdruckmessgerät, einen Gehirnstrommesser und Schlafsensoren. Andere Daten wie GPS-Koordinaten, Bildschirmzeit oder die Anzahl geschriebener Wörter wurden über das Smartphone oder Software am Laptop gesammelt.

Einmal täglich sah ich mir alle Daten an und versuchte, Muster darin zu erkennen. Außerdem führte ich ein Journal (im Grunde ein Tagebuch), in dem ich meine Träume, Gemütszustände, Begegnungen und besuchte Orte festhielt.

Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass es extrem nervig war, jeden Tag diese Daten zu sammeln. Gefühlte zwei Stunden täglich verbrachte ich damit. In den Kategorien Gesundheit & Ernährung, Arbeit & Produktivität und Reisen & Wohlbefinden fasse ich meine Ergebnisse zusammen.

 

Ernährung & Gesundheit

Getrackt habe ich Vitalwerte über eine Körperanalysewaage, eine Smart Watch, einen Schlafsensor, ein Blutdruckmessgerät und ein Thermometer der Firma Withings, die mir die Geräte für das Experiment im Dezember kostenlos zur Verfügung gestellt haben. Aufgelaufen sind diese und weitere Daten in der HealthMate App.

Außerdem habe ich für die ersten Wochen jedes einzelne Essen fotografiert und Kalorien in die App MyFitnessPal eingetragen, was nicht nur für mich, sondern auch meine Tischnachbarn anstrengend war. Hier ein paar nützliche und unnütze Tagesdurchschnittswerte für den Dezember (01.12. bis 29.12.2018):

  • 7 Stunden 32 Minuten pro Nacht geschlafen (am Wochenende 8 Stunden 37 Minuten)
  • 65 Mahlzeiten fotografiert (bis zum 23.12., als ich endgültig die Schnauze voll hatte davon)
  • 1,8 frische Kokosnüsse am Tag getrunken (ein guter Grund, um nach Brasilien zu ziehen)
  • 2.073 Kalorien verdrückt (mit einem Anteil an Kohlenhydraten/Proteinen/Fett von 65/15/20)
  • 12.310 Schritte gelaufen (11,2 km am Tag oder anders ausgedrückt, 1,5 Mal den Suez-Kanal abgelaufen)
  • 111 km gerannt bei 12 Läufen (mit einer Geschwindigkeit von 5,6 min/km)
  • Aktivpuls von 76 bpm tagsüber (zwischen 62 und 84 bpm) und nachts Ruhepuls von 57 bpm
  • Blutdruck von 127/78 mmHg (systolischer Blutdruck von max. 151/87 und min. 117/71 mmHg und diastolischer Blutdruck von max. 137/88 und min. 121/65 mmHg)

 

Gewicht und Körperzusammensetzung hatte die Körperanalysewaage „Body Cardio” von Withings bestimmt, „Sleep” gab mir Auskunft zur Schlafqualität, der „BPM” diente zur Blutdruckkontrolle und „Thermo” für die Körpertemperatur. Die „Steel HR Sport” hatte ich durchgängig am Handgelenk getragen, um Herzfrequenz, Schritte, sportliche Aktivitäten und Schlafqualität zu tracken. Via Bluetooth wurden die Ergebnisse direkt an die HealthMate-App geschickt und grafisch aufbereitet.

Um weitere Daten aus Apple Health, Runtastic, GPS-Koordinaten, Gehirnströme und mehr zu organisieren, verwendete ich Gyroscope. In meinem öffentlichen Profil kannst du sehen, was ich im Dezember 2018 so getrieben habe, bevor ich die App wieder deaktiviert hatte.

Die gesammelten Daten zu sehen, war durchaus interessant. Ein Blick auf den Schrittzähler motivierte mich beispielsweise zu Spaziergängen, wenn ich es am Nachmittag immer noch nicht weiter als von der Hängematte bis auf die Toilette geschafft hatte.

Anders herum demotivierten mich die Daten auch. So zum Beispiel, wenn ich morgens gut erholt aufgewacht war und mir die App dann sagte, dass meine Schlafqualität nur 56 % betrug. Genau das Gleiche passiert beim morgendlichen Wiegen, sowohl im positiven als auch negativen Ausmaß.

Neben den quantitativen Erhebungen half mir der Foodlog dabei, bewusster beim Essen zu sein. Da ich ein Foto von jeder Mahlzeit machte und danach Kalorien eingab, dachte ich schon beim Kochen oder Bestellen im Restaurant sehr viel mehr darüber nach, was ich zu mir nehme.

Wenn ich jetzt die gesammelten Bilder sehe, wird mir auf den ersten Blick klar, dass ich mehr Fleisch und Frittiertes esse, als mir lieb ist. In der App sehe ich neben vielen anderen Daten, wie hoch der Anteil von Kohlenhydraten, Proteinen und Fett meiner Nahrung ist.

All diese Dinge helfen mir durchaus dabei, mich gesünder zu ernähren. Es hilft mir auch dabei, vorübergehende Gelüste nach Snacks zu überkommen, die mein Körper eigentlich nicht braucht. Bei all dem geht es nicht darum, den Spaß am Essen zu verlieren. Es geht um ein höheres Bewusstsein. Es geht darum, nicht aus Langeweile oder Stress zu essen.

Vor allem wenn es bei der Gesundheit um Früherkennung und Behandlung von Symptomen geht, erscheint das Messen und Teilen von Vitalwerten sehr sinnvoll. Auf PatientsLikeMe teilen über 600.000 Menschen ihre Werte und Erkenntnisse. Apps wie ResearchKit von Apple geben Nutzerdaten an Forscher für medizinische Studien weiter. Die Zahl der freiwilligen „Datenspender” ist deutlich höher als bei traditionellen Studien. Diese Masse an individuellen Gesundheitsdaten verhilft der gesamten Gemeinschaft zu einem besseren Verständnis über ihre Krankheit.

Menschen, die unter Migräneanfällen leiden, kennen nicht immer den Auslöser für eine Attacke. Durch das Tracking von Aktivitäten, Ernährung und Körperwerten über einen längeren Zeitraum können eventuell Verbindungen hergestellt werden, die die Anfälle abschwächen.

Warum sollten nur Fachleute die so wichtigen Daten zu Blutdruck oder Herzfrequenz haben? Bisher waren ausschließlich Ärzte die Autoritäten im Gesundheitsbereich. Sie treffen Diagnosen, zu denen wir uns selten eine Meinung bilden können. Das ändert sich, wenn wir selbst Daten erheben und anfangen, Fragen zu stellen.

Bisher basierten Behandlungen und Medikamente auf Studien, in denen ein Durchschnitt errechnet wurde. Bei 75 % von Entzündungen im Hals hilft Antibiotika XYZ – verabreicht wird es unabhängig von Alter, Krankengeschichte und anderen individuellen Faktoren. Das kann sich durch Self-Tracking ändern. Auch das Machtverhältnis und die Rolle der Mediziner wird sich damit verschieben.

Withings sagte mir dazu: „Vermutlich wird Self-Tracking einen größeren Stellenwert in der Medizin und Krankenversorgung einnehmen. Natürlich können Gadgets für Zuhause keinen Arzt ersetzen, sie können aber Gefahren erkennen und Diagnosen unterstützen. Hier wird das Thema Früherkennung und Vorsorge eine enorm große Rolle spielen. Wichtig hierfür ist, Patienten und Ärzte digital zu verknüpfen.”

 


 

 

Arbeit & Produktivität

Timing und RescueTime zeigten benutzte Programme und besuchte Websites. Den Timeular-Würfel verwendete ich zur Zeitmessung bei der Arbeit. Die App WordCounter zählte geschriebenen Wörter auf dem Laptop. LifeSlice machte alle 15 Minuten ein Foto über die Webcam und einen Screenshot vom Bildschirm.

Die Apps zum Tracken der Bildschirmzeiten am Laptop liefen im Hintergrund mit, was sehr angenehm war. Zur Benutzung des iPhones gab mir die native App „Screen Time” Auskunft. Hier ein paar nützliche und unnütze Tagesdurchschnittswerte für den Dezember (01.12. bis 29.12.2018):

  • 6,9 Stunden am Laptop gearbeitet (davon 0,43 Stunden unproduktive Zeit für Netflix, YouTube & Co.)
  • 3.750 Mal den Mausklick am Touchpad betätigt (612 Mal zwischen Programmen gewechselt und 657 Tastenkürzel verwendet)
  • 3.830 Wörter pro Tag geschrieben (mit 27.882 Tastenanschlägen und 920 gelöschten Zeichen)
  • 32,3 E-Mails empfangen und 8,4 E-Mails gesendet (für ausgewählte Postfächer, in die ich täglich schaue)
  • 49 Minuten am Tag telefoniert (Videotelefonie per Skype, Zoom, Slack und WhatsApp)
  • 59 Minuten am Tag am iPhone mit 42 Pick-ups (am meisten verwendete Apps waren Google Maps, HealtMate, Gyroscope, WhatsApp, Messenger und Polymail)

 

Die Statistiken von Timing und RescueTime waren sinnvoll, um am Abend zu reflektieren, was ich eigentlich den ganzen Tag am Laptop getrieben hatte. Nicht selten fühlte ich mich produktiv, verbrachte in Wirklichkeit aber den Großteil der Zeit mit E-Mails oder dem Hin- und Herspringen zwischen Programmen.

Ein paar Wochen lang hatte ich Timeular benutzt, einen kleinen Würfel zur Zeitmessung. Je nach Aktivität dreht man die passende Seite des Würfels nach oben, woraufhin die Uhr läuft. Die Zeiten werden per Bluetooth an Laptop und/oder App übertragen. Der physische Akt des Würfeldrehens war durchaus hilfreich, um nicht ständig zwischen einzelnen Arbeiten zu wechseln.

Welche Kennzahlen dann wirklich etwas über die Produktivität aussagen, muss jeder für sich selbst herausfinden. Für mich sind die Anzahl der geschriebenen Wörter und möglichst wenige Wechsel zwischen Programmen ein guter Indikator. Hier entdeckte ich eine Korrelation zu meiner Schlafqualität und den gelaufenen Schritten pro Tag.

Auch spannend war, mich bei der Arbeit am Computer mal selbst zu beobachten. Die automatisch aufgenommenen Bilder aus der Webcam waren nicht schön – hochgezogene Stirn, Finger im Auge, die Zunge schnellt öfter mal raus. Das mag unnütz klingen, ist für mich aber ein tolles Beispiel dafür, wie unbewusst ich mir über so viele Dinge in meinem Alltag bin.

 

 

 

Reisen & Wohlbefinden

Besuchte Orte und zurückgelegte Wege wurden über das GPS des Smartphones aufgezeichnet und in der App Gyroscope aufbereitet. Das Headband von Muse hat meine Gehirnströme gemessen. Finanzen hatte ich mit der App 5coins getrackt.

Meinen Gemütszustand versuchte ich, mit verschiedenen Apps zu bestimmen. In einem Journal (dafür benutze ich DayOne) führte ich Buch über meine Träume, Begegnungen und emotionalen Ups & Downs. Hier ein paar nützliche und unnütze Tagesdurchschnittswerte für den Dezember (01.12. bis 29.12.2018):

  • 31 Minuten im Auto verbracht (805 km insgesamt gefahren)
  • 6,3 verschiedene Orte besucht (183 insgesamt, darunter 8 Städte, 3 Länder und viele Unterkünfte, Restaurants und öffentliche Plätze)
  • 8 Minuten meditiert mit 3,4 Minuten Ruhezeit (nur bis zum 14.12. getrackt)
  • 89,55 Euro ausgegeben (2597,01 Euro insgesamt, darunter 35% für Transport, 31% für Unterkünfte, 10% für Restaurantbesuche, 10% für Spenden und 5,5% für Lebensmittel)
  • 25 Seiten in einem Buch gelesen (2 Bücher auf dem Kindle und ein Taschenbuch)
  • 0,5 Träume pro Nacht gehabt (jede zweite Nacht geträumt bzw. mich daran erinnert)
  • mit 6 verschiedenen Menschen länger als 5 min gesprochen (ca. die Hälfte davon waren neue Bekanntschaften)
  • Glücksfaktor von 78% gehabt (was auch immer das bedeuten soll)
  • gefühlte 2 Stunden am Tag Daten eingegeben (was meinen Glücksfaktor sehr negativ beeinflusst hat)

 

Meine GPS-Koordinaten auf einer Karte visualisiert zu sehen, war gleichzeitig erschreckend und spannend. Ich sah, welche Transportmittel ich nutzte, an welchen Orten ich mich besonders oft aufhielt und welche Muster sich dabei bildeten. Auf der anderen Seite bescherte es mir eine Gänsehaut zu wissen, wie viele Unternehmen und Regierungen genau diese Daten von mir bekamen.

Die Zähne ausgebissen hatte ich mir bei dem Versuch, meinen Gemütszustand zu messen. Es gibt Geräte wie den Sociometer, der die Sprechgeschwindigkeit mit der Tonhöhe der Stimme verrechnet. Allerdings habe ich diesen nicht ausprobiert.

Dafür verwendete ich Apps, die mir ein paar Fragen stellten und danach errechneten, wie glücklich ich gerade war. Das ist sehr eindimensional, da nicht zwischen verschiedenen positiven und negativen Gefühlen unterschieden wird. Was sagt aus, dass ich nur 28% glücklich bin? War ich müde, traurig, wütend, enttäuscht, lustlos oder verärgert?

Deutlich sinnvoller war hier das Führen eines Journals. Jeden Abend (manchmal auch erst am folgenden Morgen) schrieb ich auf, welche Ereignisse positive und negative Emotionen in mir ausgelöst hatten. Erst durch dieses Bewusstsein kann ich aktiv Einfluss darauf nehmen.

Zusätzlich schrieb ich auf, welche Orte ich besuchte und mit welchen Menschen ich gesprochen hatte. Das half nicht nur, mir Namen besser zu merken und Erlebtes zu verarbeiten, sondern auch dabei, bewusster mit meiner Zeit umzugehen.

Auch das Schreiben eines Traumjournals war eine tolle Erfahrung. Sofort nach dem Aufwachen, wenn ich einen Traum noch frisch im Kopf hatte, notierte ich ihn mir. Das führte dazu, dass ich mich nach einer Weile an deutlich mehr Träume erinnern konnte als normalerweise.

Eine erneute Chance wollte ich in diesem Monat der Meditation geben. Von Vipassana bis geführter Meditation in Apps habe ich in den letzten Jahren viel probiert. In eine echte Routine gekommen bin ich jedoch nie. Auf spielerische Art und Weise unterstützt das Headband von Muse, indem es Gehirnströme misst und sofortiges Feedback zur Aktivität gibt. Bei ruhigen Gehirnaktivitäten läuft im Hintergrund ein seichtes Wellengeräusch. Schaltet sich das Monkey Mind ein, zieht ein Gewitter auf.

Der Anteil der ruhigen Minuten bei meiner Meditation stieg anfangs jeden Tag, was mich motivierte. Als ich das Headband mit den 5 Sensoren dann aber mal beim Arbeiten trug, waren meine Ruhezeiten noch deutlich höher. Was sagt das über mein Gehirn aus? Ich stelle mir die Frage, wie wichtig die Daten am Ende sind, solange sie mich motivieren? Letztendlich gab ich das Meditieren nach zwei Wochen wieder auf.

 


 

 

Bewusstsein und Beeinflussung durch Daten

Was bleibt nach dem Self-Tracking-Monat? War alles nur Spielerei oder bleiben tiefe Erkenntnisse?

Mir fiel positiv auf, dass ich bewusster beim Essen, Arbeiten und Schlafen war. Ich sah gut, wann ich zu ungesund aß, unruhig schlief, mich zu wenig bewegte oder zu viel Zeit vor dem Laptop verbrachte.

Die Quantifizierung verschiedener Lebensbereiche kann mir dabei helfen, mich besser zu verstehen. Die Daten drücken das aus, was ich nicht bewusst fühlen kann. Damit helfen sie mir, Bedürfnisse zu erkennen, um anhand dessen meine Lebensumstände und Gewohnheiten anzupassen.

Dazu ein Beispiel: Seit 15 Jahren gehe ich regelmäßig laufen. Mein Bewusstsein für Puls, Kilometerzeiten und Erschöpfungsgrad ist sehr hoch. Beim Laufen brauche ich keine Tracking-Gadgets. Anders ist dies bei meinem Schlaf, bei der Meditation oder dem Arbeiten am Laptop. Bei diesen Dingen täuscht mich meine Einschätzung allzu oft. Daten unterstützen mich dabei, eine objektivere Sicht zu entwickeln.

An dieser Stelle gibt es jedoch ein riesiges Problem: Daten sind nie objektiv. Sie liegen immer einer Bewertung zugrunde.

Ich vergleiche meine Messwerte mit einem Durchschnitt oder Soll-Werten, meinen historischen Zahlen, einer Benchmark oder einer Skala. Die Zahlen werden zu Maßstäben, aus denen allgemeine Normen abgeleitet werden. Alles ist relativ, dennoch stufen wir Menschen anhand des BMIs, der Leberwerte oder der Schlafdauer in Kategorien ein. Die Interpretation der Daten beeinflusst dann unser Verhalten.

Die Bewertung der gesammelten Daten ist immer im Code des Programms eingebaut, dass diese misst. Wer die Kontrolle über die Auswertung von Daten hat, ist sehr einflussreich.

Ein weiteres großes Problem beim Self-Tracking ist der Datenschutz. Wem gehören die Daten? Einige Anbieter stellen diese über einen Download-Button zur Verfügung, andere nehmen Besitz an den Daten der Nutzer. Gefährlich wird es immer dann, wenn eine App eine API-Anbindung hat, die es Dritten erlaubt, automatisch auf Nutzerdaten zuzugreifen.

Durch den unbesorgten Umgang mit Daten und die Aufgabe unserer Privatsphäre kann Diskriminierung durch Daten zu einem riesigen Problem in der Zukunft werden. Indem bestimmte Werte als normal erachtet werden, liegen andere darüber oder darunter, wodurch Menschen in Schubladen sortiert werden.

Wer sich der Datenerhebung entzieht, könnte bald unter Generalverdacht stehen, etwas zu verstecken. Auch sind Bestrafungen wie höhere Versicherungsbeiträge oder gesperrte Zugänge zu sozialen Netzwerken denkbar, wenn ich mich dem Tracking widersetze.

Was passiert, wenn unsere Versicherung weiß, wie viele Schritte wir am Tag laufen? Wenn der Arbeitgeber weiß, welche Sendungen wir uns im TV anschauen? Wie nutzen Werbetreibende all diese Informationen? Wärest du zufrieden mit dem Profil, das Datenhändler über dich erstellen?

Christoph Kucklick schreibt in seinem Buch „Die granulare Gesellschaft” darüber, wie Daten unsere Wirklichkeit verändern. Je mehr wir uns durch Daten voneinander abgrenzen (als Singularitäten), desto mehr werden wir konkurrieren. Die Gemeinschaft löst sich auf, die Differenzen nehmen zu.

Bei Mitarbeitern im Casino wird die Lächelfrequenz gemessen, Tesco misst die Effizienz durch Armbänder und Kurierdienste tracken die GPS-Daten ihrer Fahrer. Unerwünschte Verhaltensweisen werden abgemahnt. Ein permanenter Druck für die Mitarbeiter entsteht. Es gibt Lohnunterschiede für gleiche Tätigkeiten. Je genauer gemessen wird, desto ausgeprägter werden die Ungleichheiten.

Was hat es für Auswirkungen auf unsere Demokratie, wenn Politiker jeden individuellen Wähler kennen? Oder wenn Wählerstimmen je nach Bildungsgrad unterschiedlich gewichtet werden? Was wäre, wenn die Polizei aufgrund von Verhaltensmustern Wahrscheinlichkeiten für Verbrechen in der Zukunft berechnet und präventiv handelt?

Wie würdest du dich fühlen, wenn Versicherungen bald individuelle Beiträge haben, die auf sportlichen Aktivitäten und gesunder Ernährung basieren? Was wäre, wenn Medikamente und soziale Unterstützung aufgrund von algorithmisch errechneten Profilen vergeben werden?

Wie würde eine Welt aussehen, in der nicht mehr das Gleichheitsprinzip gilt, sondern Bürger in Profilen, Daten und Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden? Ist das Gerechtigkeit oder Diskriminierung?

Ich habe gelernt, dass mir die Quantifizierung durchaus dabei helfen kann, mein Bewusstsein zu steigern. Besonders für meine Gesundheit, Produktivität und mein Wohlbefinden möchte ich dies auch weiter betreiben, ohne dabei Daten für mir unbekannte Zwecke weiterzugeben.

Ich kann nicht jederzeit sagen, wie ich mich gerade fühle. Ich weiß, ob ich glücklich oder unglücklich bin, kenne aber nicht immer die Auslöser. Tracking kann mir dabei helfen, Muster aufzudecken, die ich nicht rein durch meine Intuition erkenne.

Wenn die Lösung für ein Problem bereits bekannt ist (z.B. weniger fettig essen, um abzunehmen), helfen mir reine Monitoring-Tools. Wenn ich kein konkretes Ziel habe, können mir die Daten mehr schaden, als sinnvolle Auskünfte zu geben.

Eine große Gefahr sehe ich auch in der Auslagerung des Managements von Körperfunktionen an Apps und Gadgets. Je mehr ich das tue, desto weniger denke ich darüber nach. Ich verlasse mich auf Daten, wodurch ich verlerne, auf meinen Körper zu hören.

Wem soll ich am Ende glauben? Den Daten oder meinem Empfinden? Gibt es einen Weg, unsere Intuition durch die Algorithmen von Apps zu ergänzen, um damit das Bewusstsein zu steigern? Oder bleibt anstelle der Synergie die Rivalität zwischen Mensch und Maschine?

"Wer bist du,
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