Der Selbstversorger: Autarkes Leben in den Bergen Korsikas

Sind Selbstversorger ein eigentümlicher Menschenschlag? Nachdem ich in einem autarken Bergdorf mitten in der Natur gelebt habe, komme ich zu dem Schluss, dass wohl eher wir mit unserem stressigen, unnatürlichen Alltag die Sonderlinge sind.

Hintergrund zum Selbstversuch: Der Selbstversorger

Meine Leser hatten abgestimmt. Im April 2018 sollte ich als Selbstversorger in einer autarken Gemeinschaft leben. Es gibt zahlreiche Ökodörfer und Kommunen, die zu großen Teilen autonom funktionieren und einen extrem niedrigen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Das innere Wachstum ist den Menschen dort wichtiger als materielles Wohlergehen.

Auch wenn ich in meinem Leben wenig Platz für Besitz habe, schreckt mich der Verzicht auf viele andere Annehmlichkeiten des Lebens doch ab. Ich wollte über meinen Schatten springen und einen Monat lang in einem Ökodorf bzw. in einer Kommune mit Selbstversorgern leben und herausfinden, ob mir am Ende wirklich etwas fehlt.

Ziele und Regeln für den Selbstversuch:

  • einer bestehenden Gemeinschaft von Selbstversorgern beitreten
  • nichts konsumieren, was nicht selbst hergestellt oder angebaut wurde
  • über den Alltag verschiedener autarker Gemeinschaften lernen
  • einen möglichst niedrigen ökologischen Fußabdruck hinterlassen

 

„Einheit in der Vielfalt”, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wo ich diese Aussage aufgeschnappt hatte, aber sie räsoniert sehr mit mir. Einem Anführer, einem Gott, einer Ideologie oder einem Dogma wie freier Sexualität zu folgen, lässt wenig Platz für Individualität. Es scheint bei gut funktionierenden Gemeinschaften vor allem um die richtige Balance zwischen Freiraum und Kollektiv zu gehen.

Filme wie “Tomorrow” oder “Ein neues Wir” vermitteln einen guten Eindruck vom Leben in Gemeinschaften, die sich zu unterschiedlichen Graden selbst versorgen und neue Formen des Zusammenlebens ausprobieren bzw. alte Formen wiederentdecken.

Weltweit gibt es über 1.000 mehr oder wenige autarke Ökodörfer. In Europa sind es mehr als 400, die meisten davon in Deutschland (45). Mehr Ökodörfer hat nur die USA (145). Diese Zahlen basieren auf der Zählung des globalen Dachverbandes, Global Ecovillage Network (GEN), der auf einer Karte alle weltweit anerkannten Ökodörfer auflistet.

GEN versteht unter einem Ökodorf bewusste Gemeinschaften, die unter Berücksichtigung aller Dimensionen der Nachhaltigkeit (Soziales, Kultur, Ökologie und Ökonomie) natürliche Lebensräume schaffen.

Gemeinschaften werden als eine Gruppe von Menschen verstanden, die bewusst (also absichtlich) zusammenleben und darüber hinaus gemeinsame ideelle Ziele verfolgen. Dabei wird ein Teil der Privatheit des Individuums aufgegeben, um gemeinsame Entscheidungen zu treffen.

Das Buch Eurotopia, das durch Bewohner der Gemeinschaft „Sieben Linden” entstanden ist, veröffentlicht regelmäßig das “eurotopia-Gemeinschaftsverzeichnis”.

Auf meine Frage hin, was eine Gemeinschaft ausmacht und die Menschen bewegt, sich einer solchen anzuschließen, habe ich ganz unterschiedliche Antworten erhalten. Einigen geht es darum, das ökologische Gleichgewicht durch natürliche Bauweisen und Low-Tech-Landnutzung wiederherzustellen. Dazu gehören die Nutzung regenerativer Energien, natürliches Bauen, Komposttoiletten, Pflanzenkläranlagen, Gewinnung von Regenwasser oder Permakulturdesign.

Andere wollen aussteigen aus dem stressigen Alltag mit ständigen technologischen Innovationen, zunehmendem Leistungsdruck und Vereinsamung des Einzelnen. Sie möchten Raum, um sich persönlich und spirituell weiterzuentwickeln. Sie wollen ganz bewusst in Gemeinschaft leben und dabei das Tempo aus ihrem Alltag nehmen.

Darüber hinaus habe ich auch von Gemeinschaften gehört, die einem spirituellen Leader oder starren Dogmen folgen. In meinem Kopf hörte ich dann schnell das böse Wort Sekte, da diese Anbetung eines Ideals eher nach Einschränkung als nach freier Entfaltung klingt. Die Gefahr durch Missbrauch und Manipulation ist in diesen Gemeinschaften sicher groß.

Die Art der Gemeinschaften könnte unterschiedlicher kaum sein. Es gibt Gemeinschaften mit einzelnen Eigentümern und solche, die gemeinsamem Besitz an Grund und Boden haben. Gemeinschaften mit einem Guru bzw. Anführer und solche mit demokratischen Entscheidungsstrukturen. Gemeinschaften mit einer Gruppengröße von 7 Menschen und solche mit Hunderten Bewohnern. Gemeinschaften, die komplett autark sind und solche, denen es vielmehr um das Zusammenleben als die Selbstversorgung geht.

Eine familienähnliche Gruppengröße von 7-12 Leuten scheint noch ohne klare rechtliche und soziale Strukturen auszukommen. Spätestens wenn diese Anzahl überschritten wird, braucht es anscheinend eine Organisation mit Untergruppen, Delegationen und Nachbarschaften.

Geld wird in den Gemeinschaften verdient, indem Seminare gehalten, Reisen angeboten und selbst geerntete oder gefertigte Produkte verkauft werden. Nicht alle Bewohner einer Gemeinschaft sind komplett ausgestiegen, sondern gehen noch „normalen” Jobs nach. Ansonsten wird sich über Ersparnisse und Spendengelder finanziert.

 

 

10 Tage im Selbstversorgerdorf Vitulettu

Mein ursprünglicher Plan für diesen Monat war es, jeweils eine Monatshälfte in einer sehr kleinen Gemeinschaft von Selbstversorgern und in einem größeren Ökodorf zu leben. Das gestaltete sich schwieriger als gedacht, da die Gemeinschaften keine Kurzzeitbesucher möchten, was ich gut verstehen kann.

Da ich nach den ersten vier Selbstversuchen dieses Jahres sowieso dringend Ruhe brauchte, um das Erlebte zu verdauen, habe ich es für die zweite Monatshälfte ruhig angehen lassen.

Meine Erfahrungen als Selbstversorger beschränken sich also auf 10 Tage in einem Bergdorf auf Korsika (an dieser Stelle nochmal ein großes Dankeschön an Paula, die den Kontakt zu Vitulettu hergestellt hat) sowie Recherchen und Tagesausflüge zu anderen Gemeinschaften.

Das Dorf Vitulettu befindet sich im Nordosten Korsikas, auf 800 m Höhe. Vor 25 Jahren entdeckte und pachtete Gerd, der Begründer der Gemeinschaft, das Grundstück mit den alten Ruinen. Anfangs gab es dort noch Milchschafe und eine Imkerei, die jedoch später verkauft wurden.

Zwischenzeitlich lebten im Selbstversorgerdorf bis zu 16 feste Bewohner plus Langzeitbesucher. Heute sind neben Gerd noch Beate, Carolina und Julian fest in Vitulettu. Dazu immer wieder Volontäre, die über Workaway einige Wochen lang gegen freie Unterkunft und Verpflegung im Garten mithelfen, drei Hunde und vier Katzen.

10 Tage im Selbstversorgerdorf Vitulettu
10 Tage im Selbstversorgerdorf Vitulettu

 

Zusammenleben in der Gemeinschaft

Vom ersten Tag an fühlte ich mich willkommen, nicht nur als Gast, sondern als Teil der Familie. Es war schön, zu erfahren, wie rücksichtsvoll und liebevoll die Bewohner miteinander umgingen.

Für das Miteinander gab es klare Regeln, an die sich gehalten werden musste. So hatte beispielsweise jeder sein eigenes Set an Geschirr, das nach dem Essen abgewaschen und weggeräumt wurde. Das Gleiche galt für Lebensmittel, Arbeitsmaterialien und die Nutzung von Ökotoilette und Outdoor-Dusche. Ein guter Mix aus Regeln und Rücksichtnahme scheint für das Zusammenleben unerlässlich.

Natürlich gab es nicht nur himmlischen Frieden, sondern auch mal Frustration bei den Bewohnern Vitulettu‘s. Sobald sich jemand missverstanden fühlte, wurde dies jedoch in abendlichen Sharing Circles oder 4-Augen-Gesprächen geklärt.

Bei dem Zusammenleben auf so engem Raum bekomme ich in jedem Moment gespiegelt, was mich gerade selbst belastet, ärgert oder bewegt. Diese inneren Konflikte zu lösen, anstatt die Konfrontation nach außen zu suchen, war das Ziel aller in Vitulettu.

Panorama in Vitulettu
Panorama in Vitulettu

 

Essen, Arbeiten und Leben

Bis auf wenige Ausnahmen landet immer das auf dem Teller, was im Steinofen gebacken, im Garten geerntet oder aus dem Keller mit Eingewecktem geholt wurde. Da in Vitulletu keine Tiere (mehr) leben, wurden Lebensmittel wie Milch und Eier im Biomarkt zugekauft.

Die tägliche Arbeit bestand darin, abgeerntete Beete vorzubereiten und neu zu bepflanzen. Neben den Aufgaben im Garten gab es mehrere Bauvorhaben, die parallel umgesetzt wurden. Die Beschäftigung war oft monoton, gleichzeitig aber erfüllend, denn am Ende des Tages war sofort sichtbar, was geschafft wurde.

Da ich von den 300 Sonnentagen Korsikas nicht viel mitbekam, gab es bei Regen immer wieder Zwangspausen, in denen sich alle um den Ofen herum versammelten, Teeblätter schnitten, Haselnüsse knackten oder Brotteig kneteten. Es gab immer etwas zu tun, nie aber unter Zwang oder Stress.

Das Leben in Dorf war einfach. Strom gab es dann, wenn Sonne das Solarpanel beschien. Das Wasser kam fast so kalt aus dem Hahn, wie es der Quelle in einiger Entfernung entspringt. Das holte mir wieder ins Bewusstsein, dass viele Dinge, die wir in unserem Alltag für so selbstverständlich sehen, gar nicht so selbstverständlich sind.


 

Was bleibt nach 10 Tagen?

Der Zeitraum war natürlich viel zu kurz, um mich wirklich in das Leben eines Selbstversorgers hineinversetzen zu können. Ich durfte erste Eindrücke an der Oberfläche sammeln, die Lust gemacht haben auf mehr.

Auch wenn ich mich nach 10 Tagen auf eine heiße Dusche und saubere Kleidung freute, war der Verzicht weniger groß als angenommen. Ein frischer Tee aus Minzblättern schmeckte am Ofen nach der kalten Outdoor-Dusche viel besser als der dritte Milchkaffee aus der Tassimo-Maschine am heimischen Schreibtisch.

Mir ist in Korsika wieder bewusst geworden, dass wir nicht immer alles beeinflussen können, es aber trotzdem krampfhaft versuchen. In Vitulettu haben Tageslicht, Mondphasen und der Regen bestimmt, wann welche Arbeit gemacht wird. Der Tagesrhythmus wurde der Natur überlassen und alles passierte zu seiner Zeit.

Anfangs habe ich immer noch versucht, dagegen anzukämpfen. Ich wollte die Arbeiten schnell vor dem Regen erledigen und möglichst kurze Pausen machen. Als mich Gerd wiederholt darauf hinwies, dass ich nicht immer „schnell” und „kurz” machen muss, konnte ich irgendwann loslassen. Schon nach ein paar Tagen war ich deutlich entspannter und entschleunigter als noch bei meiner Ankunft.

Was habe ich sonst gelernt? Dass es nicht selbstverständlich ist, warmes Wasser aus der Leitung und ständig Strom zu haben. Dass vieles, das ich bisher für Unkraut hielt, nicht nur essbar, sondern absolut köstlich ist. Dass Asche ein wunderbarer Ersatz für Spülmittel ist. Dass Wildschweine sich mit Hausschweinen genauso kreuzen wie verschiedenste Gemüsesorten im Garten.

In jeglicher Hinsicht war der Besuch von Vitulettu eine Bereicherung, weshalb ich sicher wiederkommen werde. Für die tolle Zeit möchte ich mich bei allen Bewohnern ganz herzlich bedanken!

Um das „Projekt Vitulettu” weiter zu entwickeln, suchen die Bewohner Verstärkung. Wer gerne dauerhaft und gemeinschaftlich ein einfaches und naturnahes Leben am Rande der Wildnis führen möchte, kann an info (at) vitulettu.org schreiben.

 

Warum wir solche Gemeinschaften brauchen

In den kommenden Jahren sehen wir uns als Menschheit Problemen wie Überalterung, Platzmangel, Nahrungsknappheit oder der Suche nach Sinnhaftigkeit gegenüber. Dafür müssen Lösungen gefunden werden und ich denke, Lebensgemeinschaften können zum Umdenken anregen und Lösungsansätze liefern.

Vor allem größere Gemeinschaften sind Übungsplätze und Treiber für neue Formen des Zusammenlebens (z.B. Mehrgenerationen-Wohnen), biologische Ernährungsweisen oder Bauformen (z.B. Earthship im Schloss Tempelhof). Sie mögen noch eine absolute Minderheit sein aber wie so oft sind es genau diese Minderheiten, die genügend Raum für Innovationen haben.

Ich bin gespannt auf weitere Erfahrungen in Lebensgemeinschaften. Im kommenden Monat steht mir mit dem Naturisten ein ähnliches Experiment bevor. Für vier Wochen werde ich in ein FKK Camp in der Nähe von Bordeaux ziehen und die Hüllen fallen lassen. Auch dort geht es vor allem um die Verbundenheit zur Natur und das Zusammenleben in bewussten Gemeinschaften.

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